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Schwere Entscheidung


VonGaby Oswald- Geschrieben am23 August 2008

Nachdem wir alle ausgeschlafen haben gibt es Frühstück. Das Wetter ist besser als vorhergesagt. Die Sonne scheint zwischen den Wolken durch. Es ist recht warm. 

Wir machen uns auf den Weg ins Sulztal. Wir nehmen wie gestern den oberen Weg zum Steinboden. Dort gibt es ein Salzdepot. Beim Steinboden fülle ich meinen Salzsack mit Salz. Ein Teil der Schafe ist bereits hier. Ich will ihnen das Salz bringen. Auf dem Weg zu den Schafen beginnt es kräftig zu regnen. Damit meine Besucher nicht nass werden schlage ich vor, zurück zum Depot zu gehen und dort eine Pause zu machen bis der Regen nachlässt. Wir essen die mitgebrachte Urner-Pastete im Stall und nach gut einer halben Stunde hört es auf zu regnen.

Wir wandern los. Leider hält die Regenpause nicht lange. Es beginnt wieder kräftig zu regnen. Meine Hosen sind bald pflotschnass. Egal! Ich sehe schon von weitem ein mickrig kleines Lamm. Zügig laufe ich zu ihm hinunter. Reto macht mich darauf aufmerksam, dass von unten zwei Personen zu den Schafen hochgehen. Einer hat einen Sack dabei. Hier besucht noch jemand die Schafe! In dem Sack hat es bestimmt Salz.

Ich bitte Marion einen etwas grösseren Bogen um die Schafe zu machen während ich direkt zum Lamm gehe. Meine beiden Hunde Sina und Nazca wollen auch da hin. Der Kleine liegt im Gras, wird jetzt aber unruhig, da die beiden grossen Schafe, die bei ihm standen, sich davon machen. Er steht auf und will ihnen folgen. Ich gebe Nazca das Kommando, dem Kleinen den Weg abzuschneiden. Nazca macht das toll, aber Sina will auch helfen. Leider macht sie es alles andere als richtig. Nachdem ich richtig laut mit ihr schimpfe geht sie zu Marion zurück, die sie zu sich gerufen hat. Zum Glück ist Ocean zu Hause sonst hätte die bestimmt auch Unsinn gemacht.

Nazca stoppt den Kleinen wieder und ich kriege ihn. Während ich das Durchfallmittel vorbereite kommen Reto und Marion dazu. Ich staube die zwei Brillenträger mit Durchfallmittel ein, bevor das Lamm seine Dosis kriegt. Gierig saugt der Kleine an der Spritze.

Ich Ich zerbrösele etwas trockenes Brot. Der Kleine leckt die Krümmel auf.

Die zwei Personen, die Reto von oben bemerkte, kommen näher. Reto meint: "Das ist doch Felix!" Tatsächlich: Er ist es. Felix sieht sich das Lamm an - und nun geht eine lange eher schweigsame Diskussion los.

Das Lamm sieht so schlecht aus, dass man es erlösen sollte. Die Chancen es aufzupäppeln seien nicht gross. Ich versuche herauszufinden, was Felix an meiner Stelle tun würde. Er hält sich diplomatisch heraus. Er meint, das sei meine Entscheidung.
Das Lamm hat genug von uns und will zu den anderen Schafen. Damit es uns nicht entwischt lege ich ihm die Leine von Nazca um den Hals. Nun können wir weiter diskutieren. Ich wüsste gerne, wie aufwändig es ist, dieses schwache Lamm zu pflegen und aufzupäppeln, erhalte aber keine richtige Antwort. Es sei halt sehr aufwendig.
Aber was bedeutet das? Dreissig Minuten oder mehrere Stunden pro Tag? Marion beteiligt sich an der Diskussion. Sie kenne jemanden, der sich bestimmt um das Lamm kümmern würde. Sie versucht, diese Person telefonisch zu erreichen. 
Felix erzählt mir in der Zwischenzeit eine Geschichte aus seiner Hirtezeit. Damals sei es ihm auch schwer gefallen über den Tod zu entscheiden. Ich bin hin- und hergerissen. Felix hat recht: Was bringt es, den Kleinen hinunter ins Tal zu tragen, wenn der Besitzer es dann doch tötet?
"Bleibt ihr hier, ich gehe jetzt mit dem Lamm zu den Tannen und bringe es hinter mich. Einmal ist es das erste Mal", sage ich. Ein Blick in die Gesichter der Anwesenden hält mich dann doch davon ab, loszugehen. Ich versuche zu erahnen, wer für das Leben und wer für den Tod des Lammes ist.
Da sagt jemand, der Kleine könne ja bereits alleine fressen! Tatsächlich: Zaghaft zupft das magere Schaf ein paar Grashalme aus der Wiese. Ist es also doch nicht derart dem Tod geweiht, wie wir bisher angenommen haben?
Da es immer noch regnet und wir alle schon durchnässt sind bestimme ich, dass wir das Lamm bis zu Max's Hütte mitnehmen und dort den Besitzer des Schafes anrufen. Ich habe nun genug, weil mir ja doch niemand bei der schweren Entscheidung hilft. Und Marion hat ihre Kollegin, die den Kleinen eventuell aufnehmen könnte, auch noch nicht erreichen können.
Felix trägt das Lamm zur Hütte. Ich überlege, was ich für Möglichkeiten habe, das Lamm zu retten. Zuerst muss der Besitzer uns das Lamm überlassen, damit ich sicher sein kann, dass wir es nicht vergebens hinuntertragen. Es einfach aufs Gratwohl hinunterzutragen, es dem Besitzer überreichen und dann mit der Unsicherheit leben, dass dieser es doch nicht pflegen möchte, weil es zu aufwändig ist, würde ich nicht ertragen. Der Kleine liegt vor der Hütte und beginnt Gras zu fressen. Den Willen zum Leben hat er offensichtlich noch nicht verloren!

Bei der Hütte von Max suche ich nach einem Telefonbuch. Leider finde ich keines. Felix ruft jemanden an, der uns die Nummer des Besitzers durchgibt. Ich rufe den Besitzer an. Ich erkläre ihm die Lage und den Gesundheitszustand des Lammes. Er erzählt mir, was er tun würde: Vitamine und Eisen geben. Wenn der Kleine darauf anspricht wäre es gut, sonst ...
Ich schwatze ihm das Lamm ab, erzähle von Marion und das wir alles tun wollen um den Kleinen durchzubringen. Nach dem Anruf gehört das Lamm mir. Jetzt kann ich entscheiden. Wir nehmen den Kleinen mit.

Es dauert eine Stunde zu Fuss bis zur Bergstation der Seilbahn, die ins Tal führt. Felix, Reto, Marion und ich wechseln uns beim Tragen ab. Der Kleine ist schwerer als er aussieht. Ihn so auf dem Armzu tragen und dabei zu gehen ist umständlich. Der Kleine legt seinen Kopf an meinen Nacken. In diesem Moment ist mir klar: Der Kleine bleibt bei mir. "Dich gebe ich nicht mehr auf!" Ich rufe Marion und sage ihr, dass sie nicht mehr versuchen müsse, ihre Kollegin zu erreichen. Ich werde das Bocklamm behalten.

Jetzt wird geplant. Reto und ich fahren zurück auf die Sittlisalp. Dort holen wir die kleine Ocean ab, die wir nicht mitgenommen haben. Uns ziehen wir trockene Kleider an. Marion ist bereits mit dem Lamm nach Luzern gefahren wo sie wohnt. Dort wird sie dem Kleinen eine extra Lamm-Vitaminbombe verabreichen, ein sogenanntes Lamm-Starter-Kit.

Reto fährt mit seinem Auto nach Hause. Ich fahre nach Luzern und hole bei Marion das Lamm ab. Es ist bereits nach 21 Uhr und dunkel. Marion hat das Lamm gewaschen, der Kleine ist nun sauber. Marion ist der Meinung, wir sollten den Kleinen Felix nennen. Sie hat recht: Felix hat mir in den letzten Wochen so viel geholfen, dass es für ihn hoffentlich eine Ehre ist, dass ich meinen Schafbock nach ihm benenne.

Die Hundebox von Ocean ist auf dem Rücksitz des Autos, bereits mit Stroh gepolstert - also nichts wie rein mit dem Kleinen. Die Fahrt nach Hause verläuft ohne Zwischenfälle, der Kleine ist ruhig. 

Zu Hause bringe ich ihn an einem windgeschützen Platz unter, gebe ihm Wasser, Kraftfutter und etwas Heu. Reto und ich essen um 22 Uhr z'Nacht. Dann gehen wir todmüde ins Bett. Das war ein anstrengender, aufregender Tag!

Hallo Gaby

Ich finde Deine Entscheidung ganz grossartig,du bist eben eine Hirtin mit einem grossen Herz.

Gruss Beatrice

Ja, ja, auf der Sittlisalp regnet es nicht einfach von oben nach unten - sondern das Wasser kommt auch horizontal daher oder sogar von unten nach oben, wenn es der Wind so will. Und schon kleben die Hosen lästig an den Beinen!

Die Hirtin müsste daher dringend ein Paar wasserdichte "Jabs" haben mit inneren Reissverschlüssen, um bei Regen einzusteigen und wenn Petrus den Hahnen wieder abgestellt hat, auszusteigen.

Seit der Sendung "Siesta" und dem Besuch von Radio DRS 1 ist die Hirtin zu einer Person von öffentlichem Interesse geworden. Ich könnte mir daher vorstellen, dass ein Ausrüster für Bergsportbekleidung an einem Link auf dieser Webseite und als Sponsor interessiert wäre.

Wer weiss, was noch alles auf die Hirtin herunterregnet! Die Rettung von Felix hat mir sehr gut gefallen. Weiterhin viel "Felice" wünscht
Vinzenz Bieri, Mailadresse und so bekannt