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Schneewittchen und die acht Zwerge
Es ist kurz vor 7 Uhr. Ich fahre mit Subi-Taxi zur Bergstation. Dort warten acht Schafbesitzer auf mich.
Heute werden die Schafe, jene, die bis jetzt unter dem Blauhorn weideten, ins Grisstal getrieben. Danach wird auf dem Grat ein Zaun aufgestellt. Dieser Zaun verhindert, dass die Schafe oberhalb der Kühe weiden können. Denn heute kommen die Älpler mit ihren Kühen auf die Oberstaffel. Und dann dürfen keine Schafe oberhalb von Kühen weiden. Das ist wie ein Gesetz. Wie ich bereits erlebt habe, können die Schafe Steine zum Rollen bringen - und das kann für die Kühe gefährlich werden.
Bei der Bergstation lade ich meinen Rucksack und Nazca aus. Ich fahre mit den ersten vier Schafbesitzern zur Oberstaffel. Oben erkläre ich Neslli-Sepp wo jene Schafe sind, zu denen ich mich nicht hochtraue. Oben gibt es etwas Gras und eine Felswand unter der sie schlafen und wiederkäuen. Um dahin zu kommen muss man über ein grosses Geröllfeld in einem steilen Hang. Wir suchen die Wand ab, finden aber keine Schafe. Ich weiss, dass bei der Gruppe ein geschecktes Lamm dabei ist. Einer der Schaf-Besitzer endeckt eine Gruppe Schafe, die in Richtung Grätli zieht. Dort sei ein Geschecktes dabei. Ich prüfe mit meinem Feldstecher, ob es sich um das Schecki-Lamm handelt. Es ist die Gruppe, die seit Tagen unter den Felsvorsprüngen liegt. Mein Versuch gestern, sie mit Mineralsalz nach unten zu locken, scheint doch geklappt zu haben. Ich habe den ganzen Freitagnachmittag gewartet und gehofft, dass sie meiner Salzspur folgen. Jetzt sind sie endlich da wo sie sein sollen.
Ich fahre zurück und hole die restlichen vier Mannen ab, die noch bei der Bergstation warten. Jetzt wird es eng im Subi. Fünf Leute, fünf Rucksäcke und ein Hund. Nazca findet gerade noch einen Platz auf dem Schoss meines Beifahrers. Oben angekommen wird diskutiert. Wir sehen vier Personen zur Spitze hochsteigen und sind überzeugt, dass das die vier sind, die ich vorher hochgebracht habe. Es wird besprochen wer was macht. Dann stellen wir fest, dass die Vier, die schon oben sind, die Schafe auf der kleinen Spitze gar nicht wie besprochen zur tiefen Spitze treiben. Also machen sich die anderen Vier auf zur Spitze und ich bekomme die Aufgabe, beim Grätli den Zaun zu öffnen.
Ich gehe los. Da sehe ich einen der Schafbesitzer oben bei der Felswand. Er geht über das Geröll als wäre es eine Wiese. Jetzt entdecke ich auch die anderen Drei. Es waren Wanderer, die wir bei der Spitze gesehen haben. Schnell steige ich zu den Dreien hoch. Sepp zwei treibt ein einzelnes Schaf über das steile Geröllfeld in unsere Richtung. Unter dem Arm trägt er ein frischgeborenes Lamm. Er setzt das Lamm an einer sicheren Stelle ab. Bei uns angekommen erzählt er, dass er das Lamm unter dem Schnee hervorziehen musste. Er habe es gerade so errreichen können. Die Aue wäre nicht mehr zum Lamm hingekommen. Grosses Glück für das Kleine, dass Sepp zwei es entdeckt hat resp. ihm aufgefallen ist, dass die Aue so ein dickes Euter hat - was auf das Lamm hinwies.
Wir lassen Mutter und Kind zurück. Auf dem Weg zum Grätli, treffen wir auf den lahmen Bock mit dem Wollzeichen «rotes A». Er ist immer noch sehr schnell unterwegs und sein Besitzer hat nicht grosse Hoffnung, dass wir ihn erwischen. Wir treiben ihn zum Grätli hoch, wo er sich schnell aus dem Staub macht.
Wir halten Ausschau nach den Anderen. Unterhalb des Blauhorns sehen wir sie kommen. Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, wie ein Schaf nach dem anderen den Weg entlang zottelt.
Nessli-Sepp hat unterdessen den Zaun beim Grätli geöffnet und wir lassen die Schafe in Richtung Platti/Griesstal ziehen. Die Schafe kennen den Weg, bald sind sie verschwunden. Das waren aber nicht alle Schafe. Einmal mehr wird diskutiert. Sepp ist sicher, dass sich noch Schafe hinter der Spitze aufhalten. Wir essen Znüni. Danach machen sich zwei Personen auf den Weg, die restlichen Schafe zu suchen. Die anderen beginnen mit der Arbeit am Zaun. Ich stehe da und weiss nicht recht wo ich helfen soll. Sechs arbeiten am Zaun. Ich höre ich ein paar Schafe mähen. Eine Gruppe von Lämmern hat den Anschluss zur Herde verpasst, sie kommen den Weg zurück zum Grätli. Ich treibe sie mit Nazca ein Stück zurück. Wieder bei den Schafbesitzern will ich helfen, aber Felix meint ich solle doch ein wenig «spiegelrohren» (mit dem Feldstecher die Schafe im oberen Sulztal beobachten). Okay: Schneewittchen beobachtet die Schafe, währen die Zwerge, ähmmm Schafbesitzer den Zaun stellen.
Nach einer halben Stunde sehen wir wie die restlichen Schafe hinter dem Blauhorn durchkommen. Erwin läuft voraus und mindestens hundert Schafe hinterher. Eine Aue von Erwin hinkt, er will sie behandeln bevor sie durch die Öffnung beim Zaun schlüpft. Wir alle versperren ihr den Weg. Aber die Aue lässt sich nicht einfangen. Blindlings rast sie an uns vorbei. Erwin hinterher. «Wart nur! Dir lauf' ich hinterher bis ich dich hab' und wenn ich bis zum Fulen laufen muss!», hören wir ihn noch rufen.
Ich setz mich wieder auf einen Stein und will weiter Schafe beobachten. Da kommt ein Wanderer. Er sei auch Schafbesitzer. Er erzählt unter anderem von seinem versicherten Bock. Schafe beobachten geht also nicht mehr. Er erzählt und erzählt und erzählt - ich höre zu. Irgendwann kommt Felix und sagt, sie würden jetzt zur Spitze hinüber gehen und dort weiter am Zaun arbeiten. Ich müsse aber nicht mitkommen («Schneewittchen hat Feierabend»).
Ich bitte Felix nochmals darum bei Marie, seiner Mutter, anzurufen. Wir haben schon zweimal versucht sie zu erreichen, da ich die Telefonnummer des Schafbesitzers der Aue mit dem Lamm nicht bei mir habe. Ich will ihn fragen, ob er die Aue und das Lamm holen kommt. Wenn er nicht kommt ist die Überlebens-Chance für das Lamm gleich Null. Kälte und Steinadler sind hier die grösste Gefahr. Felix und die anderen glauben nicht, dass er es holen kommt, aber ich solle ihn doch auf alle Fälle fragen.
Wir erreichen Marie nicht. Ich will nun schnell zu meiner Hütte hinunter und dort die Nummer ausfindig machen. Der redselige Schafbesitzer will mich begleiten. Er hat eine operiert Hüfte, hat keine Stöcke mit dabei und bleibt alle paar Schritte stehen und «brichtet» wieder. Ich überhole ihn an einer günstigen Stelle und gehe weiter auch wenn er stehen bleibt. Langsam geht es bergab.
Unten angekommen frage ich ihn, ob er mitfahren will. Er nimmt das Angebot an. Normalerweise hätte ich ihn zum Bähnli gefahren, aber das Lamm ist mir zu wichtig für diesen Umweg und so lade ich ihn unten aus. Er packt seinen Rucksack aus und redet etwas von «Müeslifutter» das er da lasse und stellt einen Papiersack in meinen Kofferraum.
Ich fahre zügig weiter zur Hütte. Dort angekommen frage ich Astrid ob sie ein aktuelles Telefonbuch haben. Leider haben sie keines. In meinem alten regionalen Telefonbuch existiert kein Pascal und das grosse Telefonbuch ist jenes vom Kanton Graubünden …
Auf dem Begleitdokument zu den Schafen ist auch keine Telefonnummer notiert. Die Kinder von Peter sind meine Rettung, sie haben ein aktuelles Telefonbuch und endlich finde ich die Nummer, rufe an, aber es nimmt keiner ab. Ich versuche es alle zehn Minuten, später dann jede halbe Stunde.
Um fünf Uhr nimmt er endlich ab. Ich wünsche mir nur, dass er das Lamm holen kommt. Heute gehe es nicht mehr, meint er. Er komme es morgen abholen. Ich bin froh, dass er es überhaupt holen kommt. Mein nächster Gedanke: Was, wenn das Lamm es nicht bis morgen überlebt?
Was brauche ich, um das Schaf und das Lamm hierher zur Hütte zu bringen. Ein Seil, als Alternative die Hundeleine und ein Halsband, falls die Aue keine Glocke um den Hals hat. Ich nehme das Halsband mit der Glocke mit, dass ich vor ein paar Tagen einer im Schnee verunglückten Aue abgenommen habe. Hinein in den Subi und wieder hoch. Vielleicht ist Felix noch oben und kann mir helfen die Aue runterzubringen. Sie steht in einem Hang, in den ich nicht unbedingt klettern will. Hinkommen würde ich vermutlich auf allen Vieren, aber nicht mit Aue und Lamm wieder heraus.
Oben auf dem Grat sehe ich eine Person. Felix? Also schnell hoch. Die Person, die mir da entgegen kommt ist kein Schafbesitzer. Wer ist das? Es ist der Kipferler Sepp. Ich erzähle ihm von der Aue und dem Lamm. Er meint er warte hier falls ich Probleme mit der Aue hätte käme er dann helfen.
Zu blöd! «Los Gaby! Das schaffst du - es geht um das Lamm», sage ich zu mir. Am Himmel sehe ich bereits zwei grosse Vögel kreisen. Ich will gar nicht wissen, ob das die Steinadler sind oder nicht. Ich steige hoch, Kipferler folgt mir. Gott sei Dank! Er kommt also doch mit. Oben kämpfe ich mich über einen Bach und arbeite mich auf allen Vieren mich an Grasbüscheln festhaltend Richtung Schaf und Lamm vor. Kipfeler ruft, er gehe oben rum, damit die Aue nicht entwischen könne. Kipfeler ist vor mir beim Lamm. Langsam nähert er sich der Aue und dem Lamm. Er packt es und nimmt es auf den Arm. Mit dem Lamm kommt er zu mir. Ich nehme es. Er zeigt mir wie ich zurück zum Wanderweg komme. Ich gehe vor, während er die Aue holt.
Keine zehn Meter weiter kommt wieder so ein steiles Grasstück. Mit dem Lamm auf dem Arm komme ich da nicht durch. Ich bitte Kipfeler das Lamm zu nehmen. Schwupps sind Lamm, Aue und Kipferler auf dem Wanderweg. Ich stehe noch immer an Ort und Stelle. Wieder geht es auf allen Vieren hinunter bis zum Wanderweg. Kipfeler ist bereits ein ganzes Stück weiter unten. Ich gehe zügig hinterher. Es geht alles gut, wir passieren den Elektro-Zaun. Immer öfter bleibt die Aue stehen und guckt den Berg hoch. Ich treibe sie hinter Kipfeler her. Wir müssen immer wieder anhalten und das Lamm auf den Boden stellen, damit die Aue ihr Kleines sieht und mitkommt. Ich nehme nun doch die Hundeleine und binde sie damit an. Jetzt kann sie nicht mehr weg, aber weiter gehen will sie auch nicht. Ziehen nützt nichts. Sie ist stur und erwürgen will ich sie auch nicht. Kipfeler geht zwanzig Meter weiter und setzt das Lamm auf den Boden. Das Lamm macht «mähhh» - und Mami-Aue rennt hin. Wir erreichen endlich die Ställe auf der Oberstaffel. Bis zu meiner Hütte schaffen wir das nie. Die Aue ist müde. Ich sehe beim Stall das Auto von Hanspeter mit Anhänger, darauf einen Kuhklauenstand. Ich frage Hanspeter, ob ich die Aue auf den Hänger laden darf. Er stimmt zu. Was für ein Glück, dass wir fahren können!
Hanspeters Kinder machen den Anhänger vom Auto los und laden den Kofferraum aus. Eine Plastikabdeckung kommt rein. Die haben also allen ernstes vor, die Aue im Kofferraum zu transportieren. Ich sehe Bilder vor mir von einem Schaftransport in Frankreich in einem Renault «Express». Das Auto sah nach dem Schaftransport wie ein Güllenloch aus.
Das Schaf und das Lamm sind im Kofferraum verstaut. Ich sitze auf dem Rücksitz und halte die Aue fest. Ich schaue sie an und sage immer wieder leise zu ihr: «Nimm dich zusammen und halt deine Verdauung zurück!» Ihr Hinterteil ist nahe an den Polstern ich versichere mich immer wieder, ob das Polster noch sauber ist. Da fliesst ein kleines Bächlein die Plache herunter. Es ist nur wenig Flüssigkeit, es muss also vom Lamm sein. Die Fahrt bis zur Hütte dauert ewig.
Endlich wir haben es geschafft, das Auto ist heil geblieben. Ich darf die Aue bei Hanspeter in den Stall stellen.
Ich bringe Hanspeter das Auto zurück und fahre mit meinem wieder hinunter. Im Kofferraum liegt noch dieser Papiersack, den der Wanderer liegen gelassen hat. Ich schaue hinein und siehe da: Kraftfutter für Schafe. Ich bringe der Aue etwas davon und kraule das gerettete Lamm.
Hanspeter und Kipferler werden nun zu Schneewittchens Prinzen erklärt. Dank den beiden geht es mir, der Aue und dem Lamm super gut.